Einer meiner Beiträge ist nun öffentlich:

Der kleine Therapeut
»Bitte … mach dich mit mir vertraut!«, sagte ein neuer Patient.
»Ich möchte wohl«, antwortete der kleine Therapeut, »aber ich habe nicht viel Zeit.
Ich muss viele Körper behandeln und viele Menschen kennenlernen.«
»Man kennt nur die Menschen, die man sich vertraut macht«, sagte der neue Patient. »Ich will nicht bloß irgendein Patient sein. Ich will dein Patient sein. Viele Ärzte und Pflegekräfte haben keine Zeit mehr, die Menschen kennenzulernen. Sie gucken nur auf die Zahlen und fertigen einen nach dem anderen ab. Aber da es keine Zahlen für das Vertraut­machen gibt, kennen sie die Patienten nicht mehr. Wenn du einen Patienten kennenlernen willst, so mache dich mit ihm vertraut, dann arbeitet er mit!«
»Was muss ich da tun?«, fragte der kleine Therapeut.
»Du musst sehr geduldig sein«, antwortete der neue Patient. »Stell dich zuerst neben die Behandlungsbank. Ich werde dich unbemerkt aus dem Augenwinkel anschauen, du streichst über meinen kaputten Arm und bewegst ihn. Dabei werden wir miteinander reden. Du wirst dich für mich interessieren und mir zuhören. Bei jeder Behandlung wirst du mir ein bisschen näher kommen und mehr von mir erfahren.«
Am nächsten Tag kam der neue Patient wieder und so ging es immer weiter und der kleine Therapeut machte sich von Mal zu Mal mit dem Patienten vertraut. Er wurde zu seinem Patienten.
Und dann kam der Tag der letzten Behandlung: »Ach«, sagte der Patient, »ich muss weinen.«
»Du bist selbst daran schuld«, sagte der kleine Therapeut. »Ich wünsche mir nicht, dass es dir schlecht geht, aber du wolltest von mir, dass wir uns vertraut machen …«
»So ist es«, sagte der Patient. »Du bist mir fast zu einem Freund geworden.«
»Aber nun musst du weinen!«, sagte der kleine Therapeut.
»So ist es«, sagte der Patient.
»So hast du nichts gewonnen!«
»Ich habe eine bewegliche Schulter und ein leichtes Herz gewonnen«, sagte der Patient. »Dafür bin ich dir sehr dankbar und schenke dir mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Das Herz sieht, was den Augen verborgen bleibt.«
»Das Herz sieht, was den Augen verborgen bleibt«, wiederholte der kleine Therapeut, um es sich zu merken.
»Die Zeit, die du mit mir verbracht hast, macht mich für dich zu deinem Patienten.«
»Die Zeit, die ich mit meinem Patienten verbracht habe …«, sagte der kleine Therapeut, um es sich zu merken.
»Viele Ärzte und Pflegekräfte haben diese Wahrheit vergessen«, sagte der Patient. »Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Patienten verantwortlich.«
»Ich bin für meine Patienten verantwortlich …«, wiederholte der kleine Therapeut, um es sich zu merken.

(Frei nach »Der kleine Prinz« von ­Antoine de Saint-­Exupéry)

Quelle: Portal für Physiotherapeuten, Heftnummer 6-2016, Rubrik „Unter uns“, abger. am 06. Juli 2017